Silvestergeschichte: Ein Licht im Dunkeln
Die letzten Tage des Jahres waren für Lena nie einfach gewesen. Seit dem Unfall vor fünf Jahren, der ihren Mann und ihre kleine Tochter aus dem Leben gerissen hatte, war Silvester für sie ein schmerzhaftes Ritual. Während andere feierten, fühlte sie sich einsamer denn je. Der Himmel war in bunten Farben erleuchtet, doch in ihrem Herzen herrschte Dunkelheit.
Dieses Jahr hatte sie sich vorgenommen, dem Trubel zu entkommen. Sie fuhr in eine kleine, verschneite Berghütte, fernab von allem, um den Jahreswechsel allein zu verbringen. Der knisternde Kamin und die eisige Stille der Berge schienen genau das Richtige zu sein. Doch als der Abend hereinbrach, spürte sie die Einsamkeit stärker denn je.
Während sie in Gedanken versunken am Fenster saß und den ersten Böllern in der Ferne lauschte, fiel ihr Blick auf eine kleine Gestalt, die sich mühsam durch den Schnee kämpfte. Ein Kind? Hier, mitten in der Abgeschiedenheit?
Schnell zog sie sich Mantel und Stiefel über und rannte hinaus. Das Mädchen, nicht älter als sieben Jahre, trug nur eine dünne Jacke und hielt eine Laterne in der Hand, die kaum noch leuchtete. Ihre Wangen waren rot vor Kälte, und Tränen glitzerten in ihren Augen.
„Was machst du hier ganz allein?“ fragte Lena besorgt, während sie sich neben das Mädchen kniete.
„Ich suche meinen Stern“, antwortete das Kind leise. Ihre Stimme war brüchig, doch ihre Entschlossenheit war unüberhörbar.
„Deinen Stern?“ Lena war verwirrt.
Das Mädchen nickte. „Meine Mama sagt, dass Menschen, die wir lieben, zu Sternen werden. Papa ist letztes Jahr gestorben. Aber heute wollte ich ihn unbedingt sehen. Ich dachte, wenn ich hoch genug gehe, kann ich ihn vielleicht finden.“
Lena schluckte schwer. Die Worte des Mädchens trafen sie ins Mark. Sie sah ihre eigene Tochter vor sich, wie sie damals leuchtende Augen hatte und von Sternen träumte.
„Es ist so kalt, komm mit mir rein. Wir suchen deinen Stern gemeinsam“, sagte Lena schließlich und nahm die kleine Hand in ihre.
Drinnen wärmten sie sich am Feuer, und Lena holte eine Decke, um das Mädchen einzuwickeln. Dann holte sie einen Karton hervor, den sie lange nicht angerührt hatte – darin waren Kerzen, die sie und ihre Tochter früher zusammen gebastelt hatten. Sie zündeten eine an und stellten sie ans Fenster.
„Schau, das ist unser Stern für deinen Papa. Er wird ihn sicher sehen“, sagte Lena und legte dem Mädchen den Arm um die Schultern.
Draußen explodierten die ersten Feuerwerke. Farben wirbelten durch die Nacht, und der Schnee glitzerte wie Diamanten. Das Mädchen schaute Lena an, mit Tränen in den Augen, die diesmal nicht vor Kälte kamen. „Danke, dass du mir geholfen hast“, flüsterte sie.
Lena spürte, wie etwas in ihr zerbrach – die harte Schale aus Schmerz und Einsamkeit, die sie so lange getragen hatte. In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie nicht die Einzige war, die jemanden verloren hatte. Und dass es manchmal ein kleiner Funken Hoffnung war, der die Dunkelheit durchbrach.
Als das Mädchen später abgeholt wurde, sah Lena hinaus in den sternenklaren Himmel. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie sich nicht allein. Irgendwo dort oben, zwischen den funkelnden Sternen, waren all die, die sie geliebt hatte – und die, die sie noch lieben würde.
Dieses Silvester war anders. Es war der Beginn von etwas Neuem. Ein Jahr voller Hoffnung, die sie wiedergefunden hatte – in den Augen eines kleinen Mädchens und einem einzigen, leuchtenden Stern (hk).
Liebe Leserinnen und Leser,
mögen auch Sie in diesem Jahr ein Licht finden, das Ihre Dunkelheit erhellt, und Menschen, die Ihnen Hoffnung schenken. Kommen Sie gut ins neue Jahr, und starten Sie 2025 voller Zuversicht und Freude. Ein frohes neues Jahr wünscht Ihnen das gesamte Team des Mittelrhein Tageblatts!